Wenn man Roger Penske, den man wohl ohne Übertreibung als Motorsport-Tycoon der USA
bezeichnen kann, fragt, welches Rennen er nach den unzähligen Erfolgen seiner Teams bei den
Indycars, in der NASCAR Series, bei vielen großen Sportwagenrennen, der American Le Mans
Series und sogar den Tourenwagen der australischen Supercars Series denn unbedingt noch
gewinnen möchte, so lautet die Antwort stets: die 24 Stunden von Le Mans. Das bedeutendste
Autorennen der Welt übt von jeher eine ganz besondere Anziehungskraft auf die Motorsportler
in Amerika aus.
Tim Considine hat sich nun mit einem geradezu überwältigenden Buch auf rund 1100 Seiten
dieses faszinierenden Themas angenommen. Manch einem mag der Name Tim Considine
bekannt vorkommen. In den 1950er und 1960er Jahren zählte er zu den bekannten Kinder- und
Jugendlichen-Darstellern im amerikanischen Film und Fernsehen. So war er in Deutschland
sicherlich durch die Rolle des ältesten Sohns Mike in der Familienserie "Meine drei Söhne" einem größeren Publikum bekannt. Nach seiner TV-Karriere betätigte er sich überaus vielseitig
– als Rennfahrer, Buchautor und Fotograf. Er war für längere Zeit der Präsident der "Motor Press
Guild", der größten Vereinigung von Motorjournalisten in den USA. Und er wurde bereits mit
dem "Motor Press Guild Dean Batchelor Award" ausgezeichnet.
Die größte Epoche amerikanischer Teams bei den 24 Stunden von Le Mans ist in der Erinnerung
fast aller Motorsport-Enthusiasten natürlich die Zeit von 1964 bis 1969, als Ford mit einem
unglaublichen Einsatz von technischem Knowhow, Menschen und Geld schlussendlich Ferrari
bei dem Langstreckenrennen besiegen konnte. Aber die Geschichte der Amerikaner – der "Yanks" - in Le Mans ist eine viel längere und größere.
Band 1 umfasst die Zeitspanne von 1923 bis 1959, und tatsächlich waren die USA von Anfang
an bei dem 24-Stunden-Rennen präsent. Schon beim ersten Rennen belegte das französische
Team von Charles Montier mit einem von einem Triebwerk des T-Modells von Ford versehenen
Ford-Montier Special den 14. Platz im Gesamtklassement. 1928 waren nicht weniger als vier
Chrysler 72 Six am Start. In der Vorkriegszeit traten auch noch Fahrzeuge von Ford, Stutz und
Duesenberg an der Sarthe an, amerikanische Fahrer und Teams blieben allerdings eine
Ausnahme.
Das änderte sich 1949, als der aus Italien stammende in den USA lebende Generalimporteur
für Ferrari, Luigi Chinetti, mit einem Ferrari 166 MM den ersten Sieg für Ferrari errang. Fortan
spielten Fahrer, Teams und Marken von jenseits des Atlantiks stets eine bedeutende Rolle, wie
zum Beispiel die von Briggs Cunningham eingesetzten Cadillac oder Cunningham-Chrysler.
1954 tauchte als Fahrer erstmals Carroll Shelby auf, der Anfang der 1960er mit seinen Shelby
Cobra Daytona Coupés ins Renngeschehen eingreifen sollte. Phil Hill, Dan Gurney, Ed Hugus
und Masten Gregory waren große amerikanische Fahrer, die schon in den 1950er Jahren in Le
Mans starteten.
Im zweiten Band dokumentiert Considine die Jahre 1960 bis 1969. Das war die große Zeit der
Amerikaner in Le Mans. Schon zum Anfang dieses Jahrzehnts beeindruckten die mächtigen
Chevrolet Corvette von Briggs Cunningham und die Maserati "Birdcage" des Camoradi Teams
sowie natürlich die zahlreichen Ferrari GT des North American Racing Teams (NART) von Luigi
Chinetti. 1963 waren erstmals ein Shelby Cobra und ein AC Cobra Ford unter den Teilnehmern.
Henry Ford II. war nach dem Platzen des Deals mit Enzo Ferrari überaus verärgert und wollte
nichts unversucht lassen, die siegreichen Italiener in Le Mans zu schlagen. Mit einem bis dahin
nicht gekannten Aufwand stellte Ford ein Programm auf die Beine, das ab 1966 geradezu
zwangsläufig zum Erfolg führte – vom GT 40 über den Mk.II bis zum Mk.IV. Ziemlich alle
amerikanischen Fahrer von Rang und Namen fanden sich an der Sarthe ein, sowohl in den
Teams von Ford als auch in anderen Mannschaften: Dan Gurney, Mario Andretti, Phil Hill, A.J.
Foyt, Richie Ginther, Masten Gregory, Mark Donohue und Bob Bondurant. War die FordWerksmannschaft 1966 und 1967 siegreich gewesen, so führten die GT 40 des John Wyer
Teams die Siegesserie auch nach dem Rückzug des Werks noch 1968 und 1969 fort.
Die folgende Ära von 1970 an, die Gegenstand des dritten Bandes ist, wurde durch die Siege
von Porsche und Matra geprägt. Dennoch blieb die Präsenz amerikanischer Teilnehmer
bemerkenswert. Insbesondere die zahlreichen Einsätze des North American Racing Teams -
zunächst mit den bildschönen Ferrari 512S und 512M, später den kaum weniger
eindrucksvollen Ferrari 365 GTB/4 Daytona - müssen hier hervorgehoben werden. Ein Highlight
war zweifellos der von Roger Penske 1971 in der attraktiven blaugelben Sunoco-Lackierung an
den Start gebrachte Ferrari 512M mit den Fahrern Mark Donohue und David Hobbs. Dazu
kamen aus amerikanischer Sicht immer wieder einzelne privat eingesetzte Chevrolet Corvette.
Der Autor beschreibt die Renneinsätze der amerikanischen Teams, Fahrzeuge und Fahrer in
chronologischer Reihenfolge. Er schildert die Rennstrategien, die teaminternen Vorgänge und
gibt auch zahlreiche Hintergrundgeschichten wieder. Dabei kommen nicht nur Considines bis
ins Detail gehende Wissen und seine hervorragende Fachkompetenz zum Tragen, sondern
ebenfalls in ganz ungewöhnlich ausführlichem Umfang Originaläußerungen der unmittelbar an
den Rennen beteiligten Personen. Hier wird deutlich, welch jahrelange und in die Tiefe gehende
Recherche Eingang in dieses Werk gefunden hat. Viele der zitierten Protagonisten sind
inzwischen verstorben; das ändert nichts an der Authentizität ihrer den Leser fesselnden
Darstellungen. Jeder der Rennberichte endet mit einem ausführlichen Rennergebnis, in dem
natürlich alle Teilnehmer und nicht nur die aus den USA stammenden aufgelistet sind.
Jeder der drei Bände endet mit mehreren Anhängen: von einem sehr ausführlichen
Quellenverzeichnis zu den vom Autor wiedergegebenen Zitaten über eine chronologisch
geordnete Teilnehmerliste bis zu einer Erfolgsstatistik der amerikanischen Rennfahrer. Eine
Auflistung der Ergebnisse der Fahrzeuge und ein nach Fahrzeugen, Personen und Teams
gegliederter Index runden diesen Teil der Bücher ab. So bleibt wirklich keine Frage zum Thema
unbeantwortet.
Das Vorwort stammt von Dan Gurney, dem großen amerikanischen Rennfahrer, der 2018
verstorben ist und den man ohne Übertreibung als eine Lichtgestalt des Motorsports
bezeichnen kann. Den Ausführungen Gurneys ist nicht nur sein sehr persönlicher Bezug zu den
24 Stunden von Le Mans zu entnehmen, sondern auch die Tatsache, dass bis heute insgesamt
über 300 Rennfahrer aus den USA an dem französischen Langstreckenrennen teilgenommen
haben.
Die begeisternde Illustration des Buchs mit rund 900 Fotografien steht dem hervorragenden
Text in nichts nach. Dabei muss man – wie bei jedem Band über die Geschichte des Autosports
– berücksichtigen, dass die Fotos aus Zeiten stammen, in denen man von den heutigen
Möglichkeiten der Sportfotografie noch weit entfernt war. Aber gerade auch die alten
Abbildungen, teilweise schwarzweiß, lösen Freude aus und vermitteln dem Leser einen
hervorragenden Eindruck vom Motorsport weit zurückliegender Epochen. Die Bilder sind zum
beachtlichen Teil im großen bis doppelseitigen Format gehalten und versetzen den Betrachter
mit ihrer brillanten Motivauswahl quasi ins Geschehen auf und an der französischen
Rennstrecke. Ein besonderes Verdienst der Herausgeber liegt darin, dass sie Bildmaterial sehr
unterschiedlicher Archive genutzt haben. Neben den großen Fotosammlungen sind auch
zahlreiche kleinere Kollektionen vertreten, so dass die gesamte Illustration überaus interessant
und abwechslungsreich ist.
Die drei Bände werden durch einen stabilen Schuber geschützt und sind erstklassig verarbeitet.
Der Einband in einer etwas gummiartigen Laminierung ist ungewöhnlich, dürfte aber sehr
pflegeleicht sein. Die Qualität des Papiers und der Reproduktion von Text und Fotos bietet
ebenfalls keinen Anlass zu Kritik.
Zweifellos sind rund 400,- € für ein Motorsportbuch ein stattlicher Preis; dieser erscheint aber
angesichts des Gebotenen in jeder Hinsicht als angemessen. Da bleibt eigentlich nur eine
Frage: Warum endet diese Chronologie 1979? Nun, nach gegenwärtigen Erkenntnissen sind
weitere vier Bände über die Zeit von 1980 bis jetzt geplant – hoffentlich müssen wir nicht allzu
lange auf ihr Erscheinen warten.
Thomas Nehlert
Twice Around the Clock – The Yanks at Le Mans - 1923-1979
Autor: Tim Considine
Verlag: Toll Hall Sexton Books, Tennessee, USA, 2018
Format:Umfang: 3 Bände Hardcover im Schuber, 24,5 x 29,5 cm, 1096 Seiten, 900 Fotos
Text: Englisch
Preis: € 399,-
ISBN: 978-0-9993953-0-1
Vertrieb: RacingWebShop.com
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